Nach § 3 Absatz 1 EFZG hat ein Arbeitnehmer Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist.

Der Arbeitnehmer trägt die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen. Diesen Beweis führt der Arbeitnehmer in der Regel durch Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Er kann diesen Beweis aber auch mit jedem anderen zulässigen Beweismittel führen.

Einer „ordnungsgemäß ausgestellten“ Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt im Rahmen der Beweiswürdigung gemäß § 286 Absatz 1 ZPO ein hoher Beweiswert zu. Mit ihr besteht die Vermutung, dass der Arbeitnehmer infolge Krankheit arbeitsunfähig war.

Von einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann nach einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 1976 nicht mehr ausgegangen werden, wenn der Ausstellung keine Untersuchung vorausgegangen ist und mangels Patientenbeziehung auch eine Ferndiagnose ausscheidet.

Danach sind Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die online ohne Untersuchung des Arbeitnehmers ausgestellt wurden, nach Auffassung der Kammer nicht für den Beweis seiner Arbeitsunfähigkeit geeignet. Es handelt sich dabei nicht um „ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, wenn unstreitig keine Untersuchung des Arbeitnehmers vorgenommen wurde, der Arbeitnehmer also weder persönlich untersucht noch ein persönliches oder telefonisches Gespräch mit ihm geführt wurde.

Etwas Anderes ergibt sich auch nicht vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie.

Nach § 4 Absatz 1 Satz 2 Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie (AU-RL) darf die Feststellung von Arbeitsunfähigkeit nur auf Grund einer unmittelbar persönlichen ärztlichen Untersuchung erfolgen. Zur Eindämmung der Pandemie bestand ein öffentliches Interesse daran, Arztbesuche möglichst zu vermeiden.

Daher wurde § 8 Absatz 1 der AU-RL geschaffen. Danach kann der Gemeinsame Bundesausschuss (im Folgenden: G-BA) eine räumlich begrenzte und zeitlich befristete Ausnahme von den Regelungen der Richtlinie zulassen, wenn sie in Abhängigkeit von der Art des Ausbruchgeschehens zur Eindämmung und Bewältigung der Infektionen oder zum Schutz der Einrichtungen der Krankenversorgung vor Überlastung notwendig und erforderlich sind.

Diese Ausnahme besteht darin, dass die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit bei Versicherten mit Erkrankungen der oberen Atemwege, die keine schwere Symptomatik vorweisen, für einen Zeitraum von bis zu sieben Kalendertagen auch nach telefonischer Anamnese und zwar im Wege der persönlichen ärztlichen Überzeugung vom Zustand der oder des Versicherten durch eingehende telefonische Befragung erfolgen darf. Das Fortdauern der Arbeitsunfähigkeit kann im Wege der telefonischen Anamnese einmalig für einen weiteren Zeitraum von bis zu sieben Kalendertagen festgestellt werden.

Von diesen Möglichkeiten hat der G-BA im März 2020 befristet Gebrauch gemacht. Nach § 7 Absatz 4 Satz 1 Musterberufsordnung der Ärzte (MBO-Ä) sollen Ärzte Patientinnen und Patienten im persönlichen Kontakt beraten und behandeln. Gemäß Satz 3 ist eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt wird und die Patientin oder der Patient auch über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt wird. Die Regelung in § 7 Absatz 4 Satz 3 MBO-Ä legt den Ärztinnen und Ärzten die Pflicht auf, im konkreten Einzelfall zu entscheiden, ob eine Fernbehandlung mit dem anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse vereinbar ist.

Die Möglichkeit der telefonischen Anamnese ist mithin eine Maßnahme der Risikominimierung in einer Ausnahmesituation während der COVID-19-Pandemie. Dadurch wird deutlich, dass nicht einmal in dieser Ausnahmesituation ein geringerer persönlicher Kontakt als ein Telefonat zulässig sein soll.

Die streitgegenständlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen wurden anhand der vom Arbeitnehmer online auf der Seite „…“ getätigten Angaben ausgestellt. Es fand weder ein persönlicher noch telefonischer Kontakt zwischen Arzt und Arbeitnehmer statt. Die Website ermöglicht gegen Zahlung einer Gebühr in Höhe von 14 EUR den Erhalt einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als PDF ausschließlich im Wege der Fernbehandlung. Entsprechend dem Angebot der Website gelangt man „in 3 Schritten zur AU“; dort heißt es wörtlich:

„1. Fragebogen beantworten

jederzeit, ohne Registrierung & datengeschützt. Du bestimmst Beginn & Dauer der AU für bis zu 7 Tage

2. Arzt erstellt PDF

Mo-Fr von 8:00 – 9:30 Uhr & 13:00 – 14:30 Uhr vom Privatarzt in Hamburg ohne Arztgespräch. Bei bestimmten Erkrankungen wählst Du im Fragebogen einen Kassenarzt, der Dich dann zu seinen dort angezeigten Zeiten anruft oder per SMS zum Videochat einlädt.

3. PDF runterladen

Sofort danach erhältst Du eine Email + SMS-Code, um alle Versionen Deiner AU als PDF-Dateien runterzuladen. Optional erhältst Du die AUs auch sofort per Post.“

Nutzer der Website werden aufgefordert, zunächst eine von zwölf Grunderkrankungen auszuwählen und anschließend verschiedene vorformulierte Fragen, insbesondere zu Symptomen, zu beantworten. Dem Nutzer werden dazu vorgegebene Antwortmöglichkeiten und Symptome zur Auswahl angeboten. Die ärztliche Anamnese beruht im Regelfall ausschließlich auf den Antworten des Nutzers auf die vorformulierten Fragen. Führen die Antworten des Nutzers nicht zu einer plausiblen Diagnose, wird der Nutzer mittels einer automatisch generierten Erklärung darauf hingewiesen, dass er den Dienst nicht nutzen kann. Im Anschluss kann der Dienst erneut in Anspruch genommen werden, ohne dass die zuvor gegebenen Antworten dabei berücksichtigt werden. Der Vorgang kann beliebige Male wiederholt werden.

Innerhalb des Aufbaus der streitgegenständlichen Website kommt es voraussehbar zu keinem Zeitpunkt zu einem (telefonischen) Kontakt zwischen Arzt und Patient. Der Arzt erhält lediglich die vorformulierten Antworten auf vorformulierte Fragen übermittelt, die die Annahme einer bestimmten Diagnose nahelegen. Dass die Fragen unter Umständen bereits mehrfach beantwortet wurden, bevor eine Übermittlung erfolgte, kann er nicht erkennen. Anlass zu telefonischen Rückfragen ist unter diesen Umständen nicht zu erwarten.

Solchen vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen kommt daher kein Beweiswert zu.


ArbG Berlin, 01.04.2021 – Az: 42 Ca 16289/20