Stehen dem Arbeitnehmer im Kalenderjahr Ansprüche auf Erholungsurlaub zu, die auf unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen beruhen und für die unterschiedliche Regelungen gelten, findet § 366 BGB Anwendung, wenn die Urlaubsgewährung durch den Arbeitgeber nicht zur Erfüllung sämtlicher Urlaubsansprüche ausreicht.

Nimmt der Arbeitgeber dabei keine Tilgungsbestimmung iSv. § 366 Abs. 1 BGB vor, findet die in § 366 Abs. 2 BGB vorgegebene Tilgungsreihenfolge mit der Maßgabe Anwendung, dass zuerst gesetzliche Urlaubsansprüche und erst dann den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigende Urlaubsansprüche erfüllt werden.

Hierzu führte das Gericht aus:

Der Senat hat bisher die Auslegungsregel in § 366 Abs. 2 BGB weder direkt noch analog angewendet, wenn eine arbeits- oder tarifvertragliche Regelung hinsichtlich des Umfangs des Urlaubsanspruchs nicht zwischen gesetzlichen und arbeits- oder tarifvertraglichen Urlaubsansprüchen unterscheidet und dem Arbeitnehmer einen über den gesetzlichen Anspruch hinausgehenden Anspruch auf Erholungsurlaub einräumt.

Der Senat ist davon ausgegangen, es handele sich um einen einheitlichen Anspruch auf Erholungsurlaub, der auf verschiedenen Anspruchsgrundlagen beruhe, und nicht um selbstständige Urlaubsansprüche. Die Unabdingbarkeit des gesetzlichen Urlaubsanspruchs spreche dafür, dass die Freistellung zur Erfüllung des Anspruchs auf Erholungsurlaub – zumindest auch – in Bezug auf das Bundesurlaubsgesetz als Anspruchsgrundlage erfolge. Dies führte im Ergebnis zu einer vorrangigen Erfüllung des Anspruchs auf den gesetzlichen Mindesturlaub gegenüber dem übergesetzlichen Teil des Tarifurlaubs.

Der Senat hält im Ergebnis daran fest, dass bei Fehlen einer Tilgungsbestimmung zunächst gesetzliche Urlaubsansprüche und erst dann den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigende, nur arbeits- oder tarifvertraglich begründete Urlaubsansprüche erfüllt werden. Hinsichtlich der Anwendbarkeit des § 366 BGB ist die bisherige Rechtsprechung jedoch zu nuancieren und weiterzuentwickeln.

§ 366 BGB regelt den Fall, dass der Schuldner dem Gläubiger aus mehreren Schuldverhältnissen zu gleichartigen Leistungen verpflichtet ist und das von ihm Geleistete zur Tilgung sämtlicher Schulden nicht ausreicht.

Für diese Situation räumt § 366 Abs. 1 BGB dem Schuldner ein Bestimmungsrecht ein. Trifft dieser keine Bestimmung, so gilt grundsätzlich die Tilgungsreihenfolge des § 366 Abs. 2 BGB. Das Bestehen einer Forderungsmehrheit ist gleichermaßen Voraussetzung für die Vornahme einer Tilgungsbestimmung nach § 366 Abs. 1 BGB wie auch für die Anwendung der Tilgungsreihenfolge des § 366 Abs. 2 BGB.

Die in der Vorschrift (einheitlich) vorausgesetzte Mehrheit von Schuldverhältnissen umfasst Schuldverhältnisse im engeren Sinne. § 366 BGB ist deshalb auch bei einer Mehrheit von Forderungen aus demselben Schuldverhältnis anwendbar.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs findet § 366 BGB außerdem auf das Verhältnis von rechtlich verselbstständigten Forderungsteilen aus einem Schuldverhältnis entsprechende Anwendung.

Die für eine analoge Anwendung festzustellende planwidrige Regelungslücke im Gesetz setzt ein unbeabsichtigtes Abweichen des Gesetzgebers von seinem dem konkreten Gesetzgebungsverfahren zugrundeliegenden Regelungsplan voraus. Darüber hinaus muss der gesetzlich ungeregelte Fall nach Maßgabe des Gleichheitssatzes und zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen nach der gleichen Rechtsfolge verlangen wie die gesetzessprachlich erfassten Fälle.

Dies trifft auf Verhältnis von rechtlich verselbstständigten Forderungsteilen zu. Der Gesetzgeber war bestrebt, nicht nur bei mehreren Hauptforderungen (§ 366 BGB), sondern sogar bei mehreren Nebenforderungen (§ 367 BGB) ein einseitiges Bestimmungsrecht des Gläubigers auszuschließen. Diese Zielsetzung würde unterlaufen, wenn auf die bei der Schaffung der §§ 366, 367 BGB ersichtlich nicht bedachten Fälle, dass Teile einer einheitlichen Hauptforderung rechtlich verselbstständigt sind, die Regelungen in § 366 Abs. 1 und 2 BGB keine entsprechende Anwendung fänden. Eine analoge Anwendung von § 366 BGB ist dagegen ausgeschlossen, wenn nur ein Anspruch vorliegt, der auf mehreren Anspruchsgrundlagen basiert.

Bei der Erfüllung von Ansprüchen auf Erholungsurlaub aus demselben Urlaubsjahr, die auf verschiedenen Anspruchsgrundlagen beruhen, ist danach § 366 BGB zwar nicht unmittelbar anzuwenden, weil zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und dem sich überschneidenden arbeits- bzw. tarifvertraglichem Mehrurlaub teilweise Anspruchskonkurrenz gegeben ist. Die Vorschrift bedarf aber einer entsprechenden Anwendung, soweit der Tarifurlaub eigenständigen Regelungen unterliegt und den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigt.

Bereits nach der bisherigen Senatsrechtsprechung besteht bei einer Regelung in einem Arbeits- oder Tarifvertrag, die hinsichtlich des Umfangs des Urlaubsanspruchs nicht zwischen dem gesetzlichen Mindesturlaub und einem übergesetzlichen Mehrurlaub differenziert, nur in Höhe des gesetzlichen Urlaubs eine Anspruchskonkurrenz. Treffen also gesetzliche und arbeits- oder tarifvertragliche Erholungsurlaubsansprüche zusammen, handelt es sich (nur) insoweit nicht um selbstständige Urlaubsansprüche, als sich diese Ansprüche decken. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass der nicht deckungsgleiche, den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigende Teil des Tarifurlaubs zumindest als ein verselbstständigter Forderungsbestandteil zu qualifizieren ist.

Die auf unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen beruhenden Urlaubsbestandteile können weitgehende rechtliche Eigenständigkeiten aufweisen, die eine entsprechende Anwendung des § 366 BGB bei einer nicht für die vollständige Erfüllung des Gesamturlaubsanspruchs ausreichenden Befreiung von der Arbeitsleistung gebieten. Dies ist der Fall, wenn ein arbeits- oder tarifvertraglicher Urlaubsanspruch bzgl. seiner Entstehungsvoraussetzungen, seiner Übertragung, seiner Kürzung bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen, seines Verfalls oder seiner Abgeltung eigenen Regeln unterliegt.

Tarifvertragsparteien können Urlaubsansprüche, die den von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG gewährleisteten und von §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG begründeten Anspruch auf Mindestjahresurlaub von vier Wochen übersteigen, frei regeln. Soweit sie in ihren Bestimmungen zur Regelung des Erholungsurlaubs nicht zwischen gesetzlichen und tarifvertraglichen Urlaubsansprüchen differenzieren und bezogen auf den gesetzlichen Mindesturlaub ihren durch § 13 BUrlG eröffneten Gestaltungsspielraum überschreiten, unterliegen die einzelnen Bestandteile des einheitlichen Tarifurlaubs unterschiedlichen Regelungen. Im Hinblick auf den mit dem gesetzlichen Mindesturlaub deckungsgleichen Bestandteil sind die arbeits- bzw. tarifvertraglichen Bestimmungen nach § 13 BUrlG iVm. § 134 BGB unwirksam. Es gelten dann insoweit die unabdingbaren gesetzlichen Vorschriften. Für den den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigenden, nur tarifvertraglich begründeten Bestandteil bleiben sie indes verbindlich (§ 139 BGB).

Die daraus resultierende rechtliche Verselbstständigung der beiden Urlaubsbestandteile entspricht der in der Vorschrift des § 366 BGB zum Ausdruck kommenden Interessenlage. Ebenso wie bei mehreren Forderungen aus einem Schuldverhältnis bedarf es in diesem Fall einer Regelung, aus der sich ergibt, in welcher Reihenfolge die den unterschiedlichen Regelungswerken unterliegenden Forderungsteile erfüllt werden. Diese kann sich in einer konkreten Tilgungsbestimmung oder abstrakten Verrechnungsreihenfolge ausdrücken. Erst dadurch wird die Feststellung ermöglicht, welche Regeln für die noch nicht erfüllten Urlaubstage gelten und ob der Urlaubsanspruch danach noch besteht oder dieser bereits verfallen ist.

Die Bestimmung der Tilgungsreihenfolge im Verhältnis des Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen nach § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX aF zu sonstigen Erholungsurlaubsansprüchen erfolgt dagegen in unmittelbarer Anwendung des § 366 BGB. Die Vorschrift gilt unmittelbar, wenn Urlaubsansprüche aus verschiedenen Zeitperioden oder unterschiedliche Urlaubsansprüche Gegenstand der Betrachtung sind. Der Anspruch auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen ist gegenüber dem gesetzlichen Mindesturlaub und arbeits- bzw. tarifvertraglichen Ansprüchen auf Erholungsurlaub ein iSv. § 366 BGB selbstständiger Anspruch. Auf den Zusatzurlaub sind zwar die Vorschriften über die Entstehung, Übertragung, Kürzung und Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs anzuwenden. Er tritt jedoch dem Urlaubsanspruch hinzu, den der Beschäftigte ohne Berücksichtigung seiner Schwerbehinderung beanspruchen kann. Der Zusatzurlaub stockt damit sowohl den gesetzlichen Mindesturlaub nach §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG als auch den übergesetzlichen Mehrurlaub auf. Anders als bei einer arbeits- oder tarifvertraglichen Regelung, die hinsichtlich des Umfangs des Urlaubsanspruchs nicht zwischen gesetzlichen und übergesetzlichen Urlaubsansprüchen differenziert und dadurch beide Ansprüche – soweit sie sich überlappen – zu einem einheitlichen Anspruch auf Erholungsurlaub verbindet, erhöht sich der dem Arbeitnehmer ohne Berücksichtigung seiner Schwerbehinderung zustehende Gesamturlaub um den Zusatzurlaub. Eine auch nur teilweise Überschneidung des insoweit selbstständigen Anspruchs auf Zusatzurlaub mit sonstigen Urlaubsansprüchen ist damit rechtlich ausgeschlossen, es sei denn, der Arbeits- oder Tarifvertrag räumt dem schwerbehinderten Arbeitnehmer konstitutiv einen Anspruch auf Schwerbehindertenzusatzurlaub ein. Die Regelung in Nr. 3.2 Abs. 1 MTV hat keine rechtsbegründende (konstitutive), sondern lediglich eine erklärende (deklaratorische) Wirkung. Sie beschreibt lediglich die bestehende Rechtslage, der zufolge schwerbehinderte Menschen im Sinne des SGB IX einen Anspruch auf den gesetzlichen Zusatzurlaub von fünf Arbeitstagen haben.

Bei der Erfüllung von Erholungsurlaubsansprüchen aus einem Kalenderjahr, die auf unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen beruhen und für die unterschiedliche Regelungen gelten, ist die in § 366 Abs. 2 BGB vorgegebene Tilgungsreihenfolge unter Berücksichtigung der Besonderheiten des gesetzlichen Mindesturlaubs und zur Vermeidung systemwidriger Ergebnisse zu modifizieren. Gewährt ein Arbeitgeber Erholungsurlaub, ohne eine Tilgungserklärung vorzunehmen, werden zuerst die gesetzlichen Urlaubsansprüche getilgt.

Gemäß § 366 Abs. 2 BGB wird bei Fehlen einer Tilgungsbestimmung zunächst die fällige Schuld, unter mehreren fälligen Schulden diejenige, welche dem Gläubiger geringere Sicherheit bietet, unter mehreren gleich sicheren die dem Schuldner lästigere, unter mehreren gleich lästigen die ältere Schuld und bei gleichem Alter jede Schuld verhältnismäßig getilgt. Diese Tilgungsreihenfolge entspricht dem vermuteten Willen vernünftiger und redlicher Vertragsparteien. Widerspricht jedoch ausnahmsweise die gesetzlich normierte Reihenfolge ganz offensichtlich dem hypothetischen Parteiwillen, so ist allein dieser maßgebend. Von der Tilgungsreihenfolge ist auch dann abzuweichen, wenn diese wegen der besonderen Eigenarten des konkreten Schuldverhältnisses von vornherein zu sinnwidrigen Ergebnissen führt.

Nach diesen Grundsätzen ist aufgrund urlaubsrechtlicher Besonderheiten von den aufgrund des Fehlens einer Tilgungsbestimmung an sich maßgeblichen Verrechnungskriterien des § 366 Abs. 2 BGB zugunsten einer vorrangigen Erfüllung des gesetzlichen Urlaubs abzuweichen. Dies ist geboten, um anderenfalls eintretende systemwidrige und dem hypothetischen Parteiwillen widersprechende Ergebnisse zu vermeiden. Das Bundesurlaubsgesetz regelt den gesetzlichen Mindesturlaub und gestaltet diesen als unabdingbaren Anspruch aus (vgl. § 13 BUrlG). Der Anspruch auf bezahlten Mindesturlaub ist als besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Europäischen Union besonders geschützt und darf deshalb nur bei Vorliegen „besonderer Umstände“ erlöschen. Zugleich beschreibt er das grundsätzlich nicht unterschreitbare Grunderholungsbedürfnis eines jeden Arbeitnehmers und stellt Mindestanforderungen für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung auf. Aufgrund seiner sog. urlaubsrechtlichen Akzessorietät gilt Entsprechendes für den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen, der zusammen mit dem bezahlten Erholungsurlaub aus §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG den Mindesturlaub für diese Personengruppe bildet. Demgegenüber können die Tarifvertragsparteien den darüberhinausgehenden Urlaub frei regeln und ihn deshalb auch geringer absichern. Ohne entsprechende Anpassung würde die Anwendung der Auslegungsregel des § 366 Abs. 2 BGB dazu führen, dass der übergesetzliche Teil eines Tarifurlaubs, der gegenüber dem gesetzlichen Mindesturlaub unter geringeren Voraussetzungen erlischt, die geringere Sicherheit bietet und damit zuerst getilgt würde. Dies hätte zur Konsequenz, dass – wie vorliegend – ein schwerbehinderter Arbeitnehmer nicht seinen gesetzlichen Mindesturlaub erhalten hätte, obwohl ihm mit 26 Tagen Urlaub mehr als der gesetzliche Mindesturlaub und der Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen zusammen gewährt worden ist. Dieses – schwerlich nachvollziehbare – Ergebnis widerspricht dem hypothetischen Parteiwillen, dass mit den ersten gewährten Urlaubstagen dem unabdingbaren Grunderholungsbedürfnis des Arbeitnehmers und den Mindestanforderungen an den Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung nachgekommen werden soll, bevor der durch Arbeits- oder Tarifvertrag zusätzlich eingeräumte Urlaub gewährt wird.


BAG, 01.03.2022 – Az: 9 AZR 353/21